Nachbarschaft

Veröffentlicht am 23.11.2020 von Thomas Loy

Derzeit demonstriert Taras Siakerka nach folgendem Zeitplan: Kurz vor 12 Uhr kommt er zur weißrussischen Botschaft am Treptower Park, öffnet den Bauwagen der „alternativen Botschaft“ gegenüber, nimmt die weiß-rot-weiße Fahne und die Transparente heraus, demonstriert rund anderthalb Stunden, dann schließt er alles wieder ein und geht im Park joggen. „Das muss sein, der Park ist so schön.“

Bis Lukaschenko aufgibt. Für die meisten Nachbarn, die ihn nach zwei Monaten Dauerprotest inzwischen kennen, ist er einfach Taras. Ein gutgelaunter, zu Späßen aufgelegter, aber gleichzeitig unermüdlicher Regimegegner. Solange der weißrussische Präsident Aljaksandr Lukaschenko im Amt ist, will Taras seinen Protest fortsetzen. Inzwischen wird er jeden zweiten Tag von Micha, einem Freund, abgelöst. Auch der Bauwagenbesitzer gehört zu seinen Unterstützern.

Als Au-pair in Berlin. Taras, 43, stammt aus Homel im Südosten des Landes. Dort wuchs er offenbar recht behütet auf – es sei ihm gut gegangen in Weißrussland, erzählt er. Er baute Motorräder, reiste mit einer Tanztruppe durch den ehemaligen Ostblock, engagierte sich in einer anarchistischen Bewegung. Um auch mal den realen Kapitalismus zu erleben, bewarb er sich als Au-pair in Deutschland, verliebte sich in eine Österreicherin, heiratete, bekam Kinder, studierte Bauingenieurwesen, gab das Studium wieder auf, trennte sich von seiner Frau, studierte Kameramann an der Filmhochschule, machte sich selbstständig.

Der Botschafter schweigt. Noch bis zum Sommer pendelte er zwischen Berlin und Homel, doch inzwischen fürchtet Taras, als Oppositioneller verhaftet zu werden. „Sie kennen mich.“ Seine Familie zu Hause wurde bislang nicht bedroht. Von der offiziellen Botschaft gegenüber hat Taras noch keine Reaktion bekommen, aber er vermutet, dass sie versuchen, ihm den Bauwagen abspenstig zu machen. Bislang ohne Erfolg.

Hupen aus Solidarität. Eine Flagge zu schwenken, auch wenn es nicht die offizielle Nationalfahne ist, fällt ihm als Anarchisten schwer. Sobald Lukaschenko aus dem Amt vertrieben ist, werde er sie niederlegen. Solange steht Taras mit ihr am Straßenrand und freut sich, wenn wieder ein Autofahrer oder BVG-Busfahrer hupt. Das Hupen ist in Weißrussland ein Zeichen des Widerstands gegen Lukaschenko. Das wissen sie auch in der Botschaft gegenüber.

Wer soll hier als nächstes vorgestellt werden? Sie selbst? Jemand, den Sie kennen? Wir freuen uns auf Ihre Vorschläge unter: leute-t.loy@tagesspiegel.de

 

+++ Dieser Text stammt aus dem aktuellen Leute-Newsletter von Thomas Loy für den Bezirk Treptow-Köpenick. In voller Länge – und kostenlos – erhältlich unter leute.tagesspiegel.de. Und das sind die weiteren Themen:

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