Nachbarschaft

Veröffentlicht am 15.11.2021 von Thomas Loy

107! So steht es in aufgeblasenen Goldfolienlettern vor ihrem Zimmer in der Senioren-WG in Niederschöneweide. Eine luftgefüllte Krone haben sie ihr auch noch geschenkt, aber die möchte Gertrud Oertel jetzt mal nicht aufsetzen. Kurz noch kämmen vorm Spiegel, dann ist sie fertig fürs Pressefoto.

Foto mit Lockenwickler. Gestern an ihrem 107. Geburtstag kam natürlich der Bezirksbürgermeister vorbei, Oliver Igel, um zu gratulieren, aber er kam zu früh, da hatte Gertrud ihre Lockenwickler noch in den Haaren. Und was macht der Bürgermeister? Er postet die Fotos auch noch bei Facebook. „Mein lieber Scholli“, sagt Gertrud und lacht. Sie lacht viel, das war schon immer so, sagt sie.

Raus aufs Land. Ihre älteren Geschwister, leider schon verstorben, sind in Charlottenburg geboren, als Kaiser Wilhelm noch regierte; sie kam in Seddin bei Beelitz auf die Welt, „das ärgert mich bis heute“. Sie findet die Großstadt viel besser als das öde Landleben, aber ihr Vater, gebürtiger Sachse, wollte eben raus aus der Stadt, die damals ja noch etwas beengter und bedrängter war als heute.

Seit 1975 in Rente. Wo soll man anfangen mit dem Erzählen, wo aufhören? Erstmal das Hörgerät einsetzen. Dann klingelt schon wieder ihr Handy, das in einer Kaffeetasse steckt. Die Gratulanten, die es gestern nicht geschafft haben. Also bei der Bahn hat sie ja lange gearbeitet, zuerst Fahrkartenverkauf in Wannsee, dann in Friedrichstraße, zuletzt Bezirkskassenverwaltung am Ostbahnhof. 1975 ist sie dann in Rente gegangen.

Kind aus dem Heim großgezogen. Vorher war sie in Beelitz-Heilstätten, Lungenheilanstalt, als eine Art Zimmermädchen. Im Krieg wurde dort ein Lazarett für die Soldaten eingerichtet, da hat sie auch noch lange mitgearbeitet. Und die „einzige Liebe meines Lebens“ kennengelernt, leider verstarb der Liebste bald und Gertrud fand später keinen gleichwertigen Ersatz mehr. „Stattdessen habe ich mir ein Mädel aus dem Kinderheim geholt“, sagt sie, und es großgezogen.

Spazierengehen am Hermannplatz. Viele Jahre hat sie in Baumschulenweg gewohnt, in einer Wohnung der Bahn, „schön am Wasser“. Wenn ihr langweilig wurde, ist sie mit dem Bus die Sonnenallee rauf zum Hermannplatz gefahren, hat bei Karstadt die Auslagen begutachtet, „aber nichts gekauft“. Baumschulenweg, da könne man auch schön herumspazieren, viel besser als in Schöneweide gegenüber dem Bahnhof, wo sie jetzt wohnt, „das is‘ nüscht dagegen.“ Dafür bewohnt sie eines der größten Zimmer in ihrer Wohngemeinschaft, das Eckzimmer mit viel Ausblick.

Viele Jüngere sind dement. Hier arbeitet sie sich täglich durch die Rätselhefte, guckt fern und spielt „zwei Stunden am Tag Mensch ärgere dich nicht“ mit einer Mitbewohnerin. „Zwei Stunden am Tag“, unterstreicht sie noch einmal, „das wächst mir schon bald übern Kopf, aber ich kann sie nicht im Stich lassen“. Viele in ihrer WG könnten sich nicht so gut beschäftigen oder seien dement – trifft ja auch immer mehr Menschen, die deutlich jünger sind als Gertrud. Sie hat es zwar mit der Wirbelsäule, aber im Kopf stimmt noch alles.

Fernseher funkt nicht richtig. Sie trägt ein dunkles Kleid mit fein verwebten, silbern konturierten Blüten, passend zum Haar. Blumen sind ihr überhaupt sehr wichtig, vor allem Orchideen. Neben den Blumensträußen hat sie noch diverse „Naschereien“ geschenkt bekommen. Und Kosmetik. Leider streikt der neue Flachbildschirm, den sie von ihrem Neffen bekommen hat, „der funkt nicht richtig“. Vor allem funkt er die falschen Programme. „Irgendwas mit der Antenne ist da nicht in Ordnung.“ Gertrud Oertel will da nicht locker lassen. Soll sie jetzt immer nur Alex-TV gucken? „Da sind wir dran“, sagt die Betreuerin.

Foto: Thomas Loy

Was war sonst noch so los in Treptow-Köpenick?

Die Schlagzeilen:
+++ Coronatests wieder kostenlos, aber wo? +++ Impfbus hält am Revier Südost +++ Gesundheitsamt nicht mehr führungslos +++ Die Corona-Lage in den Kliniken +++ Autofrei, aber mit Tiefgarage: Die Howoge feiert klimafreundliches Bauprojekt +++ Verkehrsberuhigung Schöneweide lässt zu wünschen übrig +++ Elsenbrücke: Gebaut wird ohne Autobahnoption +++ Kungerkiez-Initiative bekommt 1,5 Millionen Euro für Klimaprojekt +++ Ordnungsämter kontrollieren Falschparker – Verstöße werden teurer +++ Treptowers: Rentenversicherung folgt auf die Allianz +++ Neu: RSO Club in der Bärenquell-Brauerei eröffnet +++ Faschingsparty in der Kreativschmiede Kaos +++ Special Olympics in Grünau +++