Nachbarschaft

Veröffentlicht am 06.05.2024 von Julia Schmitz

Um zu meinem Termin mit Kerstin Hack zu gelangen, muss ich an Grenzen gehen. Zum einen an die physische Grenze zwischen befestigtem Weg in Oberschöneweide und Spree, zum anderen an meine persönliche Grenze: Ich habe Angst vor Gewässern, vor allem solchen, die dunkel und unergründlich wirken wie die Spree – auch wenn ich weiß, dass sie an dieser Stelle nur ein paar Meter tief ist und ich überdies ziemlich gut schwimmen kann.

Kerstin Hack schlängelt sich deshalb gemeinsam mit mir über den schmalen Holzsteg zu ihrem Hausboot, das sie „Anna Grace“ getauft hat. 2012 kaufte sie das knapp 26 Meter lange und 25 Tonnen schwere Schiff, das 1958 von der VEB Yachtwerft Berlin als Torpedofangboot gebaut wurde, aber schon 1970 nur noch als Fahrgastschiff in Stralsund zum Einsatz kam.

Eigentlich wollte Kerstin Hack gar kein Schiff, sondern eine bezahlbare, große Wohnung, in der sie neben privaten Räumen auch Platz für ihr Coaching hat. Doch in Berlin gleicht das mittlerweile der Suche nach dem Heiligen Gral, sie war erfolglos. Dann lernte sie zufällig einen Bootsbauer kennen, schaute aus Spaß auf Kleinanzeigen nach Schiffen – und fand ihr zukünftiges Zuhause.

„Ursprünglich hatte ich zwei Jahre für den Umbau eingeplant. Letztendlich haben wir sechs Jahre gebraucht, um es in den jetzigen Zustand zu bekommen – zwischendrin habe ich irgendwann aufgehört, die Rechnungen zusammenzuzählen“, erzählt sie. Seit acht Jahren wohnt sie nun auf der „Anna Grace“, die im Schatten des Peter-Behrens-Baus an der Wilhelminenhofstraße ihren dauerhaften Liegeplatz gefunden hat, und lässt sich allabendlich sanft in den Schlaf schaukeln.

Bis zu zwei Wochen können Klienten hier in zwei umgebauten Kajüten wohnen und sich beim Blick auf die sanft fließende Spree entspannen. In den Coaching-Stunden arbeitet Kerstin Hack mit ihnen vor allem an tief sitzenden Blockaden und Ängsten – zum Beispiel der Angst, in die Spree zu fallen.

Die hatte Kerstin Hack – die nicht nur als Coach tätig ist, sondern auch in ihrem eigenen Verlag ihre Bücher veröffentlicht – zu Beginn ihres Lebens auf dem Hausboot selbst. „Da war immer der Gedanke: Was passiert eigentlich, wenn ich mit Klamotten in die Spree falle? Gehe ich dann sofort unter?“, erzählt sie. Also habe sie es nach und nach ausprobiert, sei mit immer mehr Kleidungsstücken sprichwörtlich ins kalte Wasser gesprungen. „Ich bin nicht untergegangen, ich kann schwimmen. Seitdem habe ich keine Angst mehr, bei Arbeiten am Schiff abzurutschen“, sagt sie.

Kerstin Hack ist eine Macherin: Ängste, Ziele und Ideen geht sie konkret an. Deshalb ist es fast schon folgerichtig, dass sie irgendwann auch den alten, verwitterten Kahn, der neben ihrem Hausboot liegt, gekauft hat: Dort soll in Zukunft ein Ort für Gruppen-Coachings oder auch ein Coworking-Space entstehen. Bis dahin ist es aber noch ein weiter Weg, das Schiff ist längst noch nicht bespielbar. Vermutlich wird es noch ein paar Jahre dauern, bis sich dieser Traum erfüllt – aber dass er das tun wird, da ist sich Kerstin Hack sicher.

  • Wer Lust hat, Kerstin Hack bei den Renovierungsarbeiten des Kahns zu unterstützen oder ein Coaching auf dem Schiff buchen möchte, kann sich bei ihr unter info@down-to-earth.de melden oder sie über ihre Webseite kontaktieren
  • Foto: Julia Schmitz