Namen & Neues
Stilles Gedenken? Die umkämpfte Erinnerung an die NS-Opfer
Veröffentlicht am 28.01.2020 von Ingo Salmen
Es war ein Eklat mit Ansage. Schon im Dezember deutete eine Anfrage in der Bezirksverordnetenversammlung (BVV) darauf hin, dass es in diesem Jahr wieder großen Widerstand gegen die Teilnahme der AfD am bezirklichen Gedenken an die NS-Opfer geben würde, noch größeren als Anfang 2019. Bis Mitte Januar gab es nicht weniger als drei Aufrufe aus antirassistischen und antifaschistischen Kreisen zum Protest. Die AfD, das sagte ihr Fraktionsvorsitzender Rolf Keßler am Donnerstag in der BVV, beharrte natürlich auf ihrer Teilnahme, sie werde sich „nicht einschüchtern lassen“. Das war auch nicht anders zu erwarten, er und seine Mitstreiter gehören nun mal dem Bezirks- oder dem Landesparlament an. BVV-Vorsteherin Kathrin Henkel (CDU) beteuerte zwar, dass es intensive Vorbereitungen mit der Polizei gegeben habe – doch ganz durchdacht waren wohl auch die nicht.
Und so sah es dann am Sonnabend auch auf dem Parkfriedhof aus. Wenn man denn überhaupt dorthin gelangte. Vor Beginn des eigentlich „stillen Gedenkens“ gab es draußen eine Kundgebung der Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA). Die Polizei kontrollierte den Zugang, es gab Verzögerungen, und selbst Petra Rosenberg, Vorsitzende des Landesverbands der Sinti und Roma, hatte Schwierigkeiten, die Gedenkstele auf dem Friedhof zu erreichen. Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau (Linke) kritisierte daraufhin das Handeln der Polizei, zumal die auch Hunde auf den Friedhof mitgebracht hatte. Die Polizei war mit 120 Kräften im Einsatz, 200 Demonstrant*innen machten ihrem Unmut Luft, die AfD legte ihren Kranz nieder – der jedoch später zerstört wurde.
Was in all diesen, auch verbalen, Tumulten beinahe untergegangen ist: An diesem Sonnabend sprachen in Marzahn auch Nazi-Opfer. Nicht nur in Erzählungen. Nein, sie waren physisch anwesend. Bei der Kundgebung des VVN-BdA sprach zum Beispiel Ehrenvorsitzender Hans Coppi, junior, Sohn der Widerstandskämpferin Hilde Coppi und des Widerstandskämpfers Hans Coppi, beide Mitglieder der „Roten Kapelle“ und hingerichtet in Plötzensee. Coppi junior, Jahrgang 1942, wurde im Berliner Frauengefängnis Barnimstraße geboren, wo seine Mutter interniert war. Die Eltern wurden ihm bald geraubt. Am Sonnabend sagte er: „Ich bin beunruhigt und kann mich nicht daran gewöhnen, dass die AfD von zu vielen Menschen als eine normale Partei angesehen wird. Die AfD möchte nicht nur die Erinnerungskultur, sondern auch die Demokratie überwinden.“ Ihre Teilnahme am stillen Gedenken sei „scheinheilig“. Das sagte Coppi am Sonnabend, dem 104. Geburtstag seines Vaters.
Ein Mitglied der VVN-BdA aus Lichtenberg stellte sich vor: „Mein Name ist Charles André Melis und ich wurde 1944 in der Illegalität in Frankreich geboren“, sagte er. Fast alle näheren Angehörigen, insgesamt 14 Menschen, seien in Auschwitz umgebracht worden. „Überlebt haben meine Mutter im Widerstand und ein Onkel in der Illegalität und wir zwei Kinder“, sagte Melis. „Auschwitz war auch meiner Mutter und meinem Bruder zugedacht – sie konnte sich dank Mithilfe des Widerstandes durch Flucht aus dem KZ Noé diesem Los entziehen.“ Die Anwesenheit von AfD-Mitgliedern bei der Gedenkveranstaltung sei ihm „unerträglich“, sagte Melis weiter. Dabei bezog er sich auf die „Vogelschiss“-Äußerung von Alexander Gauland. „Jedes Opfer war eines zu viel, aber keines soll umsonst gewesen sein, sondern uns ständig mahnen, dass völkisch-rassistisches Denken und Handeln als eine Basis dieser Verbrechen auch heute im Alltag existieren und nicht zuletzt in der AfD eine organisatorische Heimstatt haben.“
Es kann also nicht die Rede davon sein, dass der Protest gegen die Teilnahme der AfD nur eine Aktion junger Leute (und wenn schon!) wäre, wie es die AfD gern suggeriert. Und es wird deutlich, wie verzerrend der Versuch ist, die Antifaschist*innen von heute mit den Nationalsozialist*innen von einst auf eine Stufe zu stellen. Man kann viel Kritik üben am Handeln von Linken oder gar Linksextremist*innen. Die Veröffentlichung von Privatadressen von AfD-Politiker*innen aus Marzahn-Hellersdorf im Internet kurz vor der Gedenkfeier ist zweifellos eine gefährliche Grenzüberschreitung, die nicht zur Zivilisierung des Konflikts beiträgt, sondern im Zweifel Gewalt schürt. Aber „die“ Antifa gibt es schlechterdings nicht und die Demonstrierenden vom Sonnabend sind nicht gleichzusetzen mit der SA der 30er-Jahre, wie es die AfD immer wieder versucht: wenn der Verordnete Joachim Nedderhut, wie im Februar 2019, von der „roten SA“ spricht oder der Abgeordnete Gunnar Lindemann, wie so oft, über die „SAntifa“ twittert.
Es ist die AfD, die zuerst Anlass für Kritik gibt, wie die Nazi-Opfer selbst sie äußern. Nicht nur ihr Ex-Bundesvorsitzender Alexander Gauland, auch sein Nachfolger Tino Chrupalla, der im NS-Jargon von „Umvolkung“ spricht, oder das Bundesvorstandsmitglied Andreas Kalbitz, zugleich Landesvorsitzender von Brandenburg, der eine rechtsextreme Biografie aufweist, oder der Parteichef in Thüringen, Björn Höcke, der eine erinnerungspolitische „Wende“ fordert, wie die noch verbliebenen Überlebenden des Holocaust sie fürchten. Die AfD zeigt auf allen Ebenen eine Offenheit gegenüber Rechtsextremisten, das können auch jene nicht ausblenden, die sich selbst nicht dazurechnen würden. Darauf kommt es an.