Nachbarschaft

Veröffentlicht am 23.09.2020 von Julia Weiss

Seit 15 Jahren lebt der britische Autor Paul Scraton in Berlin. Für sein neues Buch ist er einmal um die ganze Stadt herumgelaufen – 180 Kilometer. Mein Kollege Werner van Bebber hat ihn getroffen.

Paul Scraton sitzt am Ufer der Panke, nahe der Weddinger Badstraße. Dahinten, im nächsten Häuserblock, wohne er, fünfte Etage, kein Fahrstuhl, sagt er mit einem Lächeln und weist Richtung Norden. Der flache Fluss führt erstaunlich klares Wasser und wirkt dennoch wie eine Mülldeponie. Alte Autoreifen liegen darin, Flaschen, zwei grellorange Leitkegel. Wie die Berliner Stadtgrenze hatte schon die Panke Scraton zu einer langen Wanderung veranlasst. In Richtung Norden ist er ihr vor ein paar Jahren gefolgt.

Seit fünfzehn Jahren lebt Scraton, jetzt knapp über 40, in der Stadt – und von ihr, seinem Interesse an Geschichte und seiner Fähigkeit, darüber zu schreiben. Er hat Nachbarschaftsspaziergänge organisiert und den Mauerweg erforscht, schreibt für britische Zeitungen und betreibt die Internetseite „Under a grey sky“, die zum Suchen von Abenteuern vor der Wohnungstür auffordert.

Paul Scraton versteht sich nicht als Stadtspaziergänger in der Tradition der Flaneure Walter Benjamin und Franz Hessel, die über die Boulevards und großen Plätze schlenderten, Menschengesichter ansehen und Großstadtimpressionen wahrnehmen wollten. Die Idee der Stadtumrundung sei im Gespräch mit seinem Verleger entstanden, sagt der Autor. Ihr Ausgangspunkt sei eine vor allem in England kultivierte Art, über Städte zu schreiben, indem man unbekannte, spannende, abgelegene Orte aufsucht und fragt, was sie über die Stadt und das Leben zu erzählen haben.

Stadt als Ort für immer neue Entdeckungen: So war Berlin von Anfang an für Paul Scraton. 2001, nach Abschluss der „International Studies“ mit Schwerpunkt Geschichte und Politik, habe er reisen wollen, erzählt er. Berlin war seine erste Station – und fast das Ende der Reise, denn er verliebte sich. Seine Frau und er arbeiteten im selben Hostel in Mitte. Die beiden haben eine 14 Jahre alte Tochter. Mit ihr, sagt Paul Scraton, habe er in der Zeit des coronabedingten Hausunterrichts jeden Tag eine andere Straße erkundet, nach interessanten Häusern oder Geschäften geguckt.

Er selbst gehe ohnehin jeden Tag eine Stunde durch die Stadt. Was Berlin von anderen Großstädten unterscheide, sei vielleicht die Erinnerungskultur: dass an so vielen Orten der Stadt an ihre Geschichte erinnert werde. Und nicht allein an deren, wie er sagt, „dunkle“ Kapitel. Man lese eben auch „In diesem Haus hat David Bowie gewohnt“ oder „Hier hat Herr Borsig seine erste Fabrik gebaut“. Und ganz in der Nähe, an der Ecke Bad- und Pankstraße, erinnere eine große Wandmalerei an die drei Boateng-Brüder, die hier auf einem Fußballplatz gespielt haben. Wenn ihn überhaupt etwas störe an Berlin, sagt Scraton, dann sei es das, was einem nach ein paar Wochen Abwesenheit auffällt: Wie dreckig es sei. Er wolle aber nicht als Spießer erscheinen!

Berlin ist der Ort, an dem Scraton wohl „den Rest meines Lebens oder die nächsten 20 Jahre“ verbringen wird. In das Jahr der Stadtumrundung fiel der Brexit, er habe sich oft gefragt, wohin er gehöre. Die britische Politik werde „mit jedem Monat schlimmer“, und es gebe „fast nix“, was in Großbritannien besser funktioniere als in Deutschland. Schnell kommt die Frage auf, was er vermisse, die Antwort: „Yorkshire Tea“. Aber das sei auch alles. Das deutsche Bier sei ohnehin besser, und die Supermärkte hätten seit 2001 ihr Angebot so erweitert, dass er auch ein pakistanisches Curry zubereiten könne, wie er es aus England kenne. Er lacht ein bisschen über sich selbst: „Ich bin nicht richtig hier und nicht richtig in Großbritannien“.

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Foto: Sven Darmer

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