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Was bedeutet die Pandemie für den Bezirk? Bürgermeister Martin Hikel im Interview

Veröffentlicht am 25.03.2020 von Madlen Haarbach

Für das Bezirksamt Neukölln ist die aktuelle Ausnahmesituation neu. Bezirksbürgermeister Martin Hikel (SPD) spricht im Interview über die aktuellen Arbeitsbedingungen, die Menschen im Bezirk und appelliert an die Solidarität.

Bezirksbürgermeister Martin Hikel, Foto: Kitty Kleist-Heinrich

Herr Hikel, wie arbeiten Sie denn gerade? Ich bin viel im Rathaus im Büro. Ich habe relativ wenig, um nicht zu sagen null, öffentliche Termine momentan, weil alle Besprechungen und Veranstaltungen abgesagt wurden. Deswegen bin ich hier und für die Kolleginnen und Kollegen mit ansprechbar. Wir sind eigentlich permanent damit beschäftigt, sicherzustellen, dass der Dienstbetrieb gut funktioniert, weil ja auch hier im Rathaus weniger Leute vor Ort präsent sind. Auch für uns gilt die Maßgabe: So wenige Kontakte wie möglich und nur so viel wie nötig. Dementsprechend sind hier nur die Kolleginnen und Kollegen, die den Dienstbetrieb aufrecht erhalten und unter den Voraussetzungen notwendig sind. Möglichst viele sind im Homeoffice. Was für uns gerade wichtig ist, ist, dass wir eine Verstärkung im Gesundheitsamt haben. Das heißt, die Kolleginnen und Kollegen, die gerade in ihren Bereichen verzichtbar sind, gehen ins Gesundheitsamt und machen da etwa Telefondienst und betreuen die Menschen, die gerade in Quarantäne sind. Das sind gerade die dringlichsten Aufgaben.

Das heißt, der Bezirksbürgermeister im Homeoffice ist gerade noch keine Option? Nein, das ist noch keine Option. Dafür sind die ganzen Akten hier und die ganzen Vorgänge. Solange ich gesund bin, werde ich auch weiter hier ins Büro kommen, ganz klar.

Wie geht aus Ihrer Sicht die Menschen im Bezirk mit den aktuellen Auflagen um? Das hat sich mittlerweile eingespielt. Das Ordnungsamt ist eigentlich permanent damit beschäftigt, die Eindämmungsverordnung umzusetzen und hat in den letzten Tagen mehrere hundert Betriebe täglich kontrolliert. Sie haben nur einen minimalen Anteil an Verstößen festgestellt. Es war in der Regel auch so, dass man den Leuten das erklärt hat und die Einsicht sehr hoch war. Und auch, wenn ich gerade mit dem Fahrrad jeden Tag zur Arbeit fahre, sind die Straßen eigentlich leer und die Geschäfte geschlossen. Ich hab das Gefühl, die Leute nehmen das doch sehr ernst.

Einige Städte wandeln gerade Straßen in temporäre Fahrradwege um, damit der Fahrradverkehr als infektionsarme Verkehrsart gefördert wird. Gibt es ähnliche Überlegungen auch in Neukölln? Wir haben uns mit dem Thema noch nicht intensiv beschäftigt, die Kollegen haben das aber durchaus wahrgenommen. Die Frage stellt sich momentan eigentlich gar nicht, die Straßen sind sowieso leer. In der Karl-Marx-Straße ist gefühlt seit langer Zeit kein Mensch, da sind ganz wenig Autos unterwegs. Deswegen stellt sich momentan faktisch der Zustand von selbst ein, dass die Straßen zu Fahrradstraßen werden, weil einfach kaum Autos unterwegs sind. Momentan konzentrieren wir uns tatsächlich vor allem auf die Verkehrssicherung.

Welche Auswirkungen hat die aktuelle Situation auf größere Projekte im Bezirk, etwa das Bauprojekt auf den Buckower Feldern? Das lässt sich momentan noch gar nicht so richtig absehen. Bei den Buckower Feldern ist es so, dass wir den Umzug der verbliebenen Bewohner aus der Gemeinschaftsunterkunft in der Gerlinger Straße abgesagt haben. Ich bin sehr froh, dass wir in den letzten Wochen den Großteil der Familien in Wohnungen im Sozialraum unterbringen konnten. Ein Umzug der verbliebenen Bewohner hätte nun aber gegen alle Auflagen des Infektionsschutzes verstoßen Unser Gesundheitsamt überlegt sich aktuell wie der Umzug stattfinden kann, weil klar ist auch: Wir wollen den Bau der Buckower Felder jetzt nicht verzögern, sondern da möglichst bald neuen Wohnraum schaffen. Das heißt, der Freizug muss zeitnah stattfinden, damit die „Stadt und Land“ mit den vertraglich gebundenen Firmen weiter arbeiten kann. Bei Straßenbauarbeiten geht es gerade weitestgehend so weiter wie vorher, da sind das in der Regel noch Prüfprozesse. In der Braunschweiger Straße wird zumindest jetzt noch weiter gebaut.

Wie gut war Neukölln auf so eine Situation vorbereitet? Wie alle Bezirksämter waren wir einigermaßen überrascht. Es hatte sich ja angedeutet, das sowas kommen könnte, weshalb wir uns relativ früh in einem Koordinierungsstab zusammengesetzt haben um zu überlegen, wie wir hier den Dienstbetrieb umstellen und uns auf eine Pandemiesituation einstellen können. Es gibt Pandemiepläne in den Bezirken und im Land Berlin, an die wir uns halten. Dementsprechend gibt es da die Vorbereitung, es ist nur für alle gerade eine sehr neuartige und einzigartige Situation. Wir haben auch einen Katastrophenschutzbeauftragten, der die Maßnahmen mit überwacht und organisiert. Das Gesundheitsamt hat einen eigenen Krisenstab eingerichtet und bewertet die Situation jeden Tag neu. Der Koordinierungsstab des gesamten Bezirksamtes tagt momentan noch wöchentlich, je nach Lage werden wir uns aber bis zu täglich zusammensetzen. Wir sind da eigentlich ganz gut aufgestellt. Das zeigt sich auch daran, dass wir relativ kurzfristig in diesen Notbetrieb umstellen konnten.

Haben Sie den Eindruck, dass die aktuelle Situation den Bezirk nachhaltig verändern wird? Ich glaube, es wird einen nachhaltigen Effekt auf die ganze Kunst- und Kulturlandschaft geben. Die Ersten, die sich bei uns gemeldet haben und jetzt große Sorgen haben, sind Kulturbetriebe, wie der Heimathafen und das SchwuZ, Künstlerinnen und Künstler, Gastronomen, Clubs. Jetzt wird sich ein bisschen zeigen, inwiefern die Hilfsangebote des Landes Berlin den Leuten vor Ort konkret was bringen. Wir sind da ständig in Beratung etwa mit der Wirtschaftsförderung. Insofern kann es schon das Gesicht des Bezirkes und der ganzen Stadt nachhaltig verändern, denn jeder kleine Gastronom, der in der Sonnenallee oder Karl-Marx-Straße sein Geschäft hat, muss sich jetzt überlegen, wie er die nächsten Wochen und im Zweifel Monate über die Runden kommt.

Gestern kündigte der Senat an, dass Zwangsräumungen in den kommenden Wochen nicht stattfinden sollen. Betrifft das auch den Räumungstermin der Kiezkneipe „Syndikat“ am 17. April? Ich habe heute vom Gerichtsvollzieher erfahren, dass auch die Räumung des Syndikats ausgesetzt ist und erst einmal an diesem Tag nicht stattfindet – was ich sehr begrüße. Der Senatsbeschluss bezog sich bislang auf Wohnungen, und das Syndikat ist – auch wenn es für viele vielleicht ein Wohnzimmer ist – ja keine klassische Wohnung. Ich finde, es ist eine gute Entscheidung, dass man nicht sagt, man möchte auf Teufel komm raus eine Räumung durchführen, weil da am Ende ja auch eine politische Dimension dahinter steckt, die man zumindest artikulieren möchte und sollte. Wenn die quasi nicht stattfinden kann, weil es ein Versammlungsverbot gibt, und man dann einfach versucht, im Stillen eine Räumung durchzuführen, wäre das gegenüber den Neuköllnern nicht angemessen.

Haben Sie einen Rat oder Appell an die Neuköllner*innen? Ich glaube, woran wir uns alle halten müssen, ist, dass wir tatsächlich den physischen Kontakt auf ein Minimum reduzieren. Das fällt schwer, das ist eine Veränderung im Alltag, die man sich immer wieder bewusst machen muss. Wozu ich die Neuköllnerinnen und Neuköllner, eigentlich alle, aufrufen möchte, ist, den Akt der Solidarität hoch zu halten. Es gibt viele Menschen, die Essen an Gabenzäune hängen, weil natürlich gerade Obdachlose von der Situation besonders stark betroffen sind, weil auch das Ehrenamt runtergefahren wird. Vielleicht verteilt sich das Ehrenamt jetzt aber auf viel breitere Schultern, weil die Bürgerinnen und Bürger selber aktiv werden. Dass man Spenden so übergeben kann, finde ich großartig, das soll unbedingt beibehalten werden. Wir wollen auch als Bezirksamt Ehrenamtsstrukturen bündeln und Angebote schaffen, vor allem über das Neuköllner Engagementzentrum. Da kann man sich telefonisch oder per E-Mail hinwenden, wenn man unterstützen möchte. Sonst kann ich nur sagen: Kühlen Kopf bewahren, wenig sozialen Kontakt und regelmäßig auf die Seiten des Bezirksamtes schauen, weil wir da immer wieder Aktualisierungen zur aktuellen Lage und Rechtsverordnungen bringen.