Kiezkamera
Veröffentlicht am 03.06.2021 von Christian Hönicke

Wer verhält sich hier falsch? Das Kind – meint das Bezirksamt. In den zurückliegenden Wochen haben wir wiederholt über Gefahren durch Lieferwagen auf Geh- und Radwegen berichtet. Vergangenen Donnerstag bekam das Thema eine traurige aktuelle Relevanz: Auf der Frankfurter Allee starb eine Radfahrerin, weil ein Lieferwagen den Radstreifen zugeparkt hatte.
Vor diesem Hintergrund steigt die Kritik an der verständnisvollen Haltung des Pankower Bezirksamts und der Polizei gegenüber Falschparkern. Ordnungsstadtrat Daniel Krüger (AfD) erklärte vergangene Woche hier im Newsletter, Fußgänger hätten „immer die Möglichkeit, die Straßenseite zu wechseln“, wenn etwa ein Liefer-Lkw vor dem neuen Supermarkt mal wieder den Gehweg wie in der Pappelallee blockiert.
Das sieht auch das Straßen- und Grünflächenamt so. Das will einerseits die „Mobilitätswende“ vorantreiben und hat dazu den deutschlandweit ersten „Mobilitätsbericht“ verfasst. Dessen Quintessenz: mehr Raum und Schutz für Fuß- und Radverkehr, Reduzierung der Gefahren und Gesundheitsbelastungen durch Autos.
In Auftrag gegeben hat das Werk der zuständige Stadtrat Vollrad Kuhn (Grüne). So löblich das Ansinnen sein mag – in der Praxis ist davon bisher noch wenig zu merken. Kuhn selbst erteilte etwa besorgten Eltern schriftlich die Auskunft, sie mögen bitte für eine „angemessene Verkehrserziehung“ ihre Schulkinder sorgen. Die beinhaltet nach seinem Verständnis, dass die Kleinen von Lastern zugeparkte Gehwege auf dem Weg zur Schule aus Sicherheitsgründen weiträumig umkurven und im Zweifel am besten ganz woanders langlaufen sollten.
Weiterhin drückt der vermeintliche „Verkehrswendebezirk“ insbesondere bei gefährlich falsch geparkten Autos häufig alle Augen zu und schiebt die Verantwortung für das Risiko im Zweifel bei den Schwächsten ab – wie die folgenden vier aktuellen Beispiele zeigen.
Beispiel 1: Fehrbelliner Straße in Prenzlauer Berg. Polizei und Ordnungsamt wurden dort immer wieder auf die Gefahr durch Liefer-Lkw aufmerksam gemacht. „Wir haben uns mehrfach wegen der Situation in der Fehrbelliner Straße beschwert“, teilt Christian-Olaf Bader mit. Die Straße sei beliebt für den „Abkürzungsverkehr zwischen Brunnenstraße und Schönhauser Allee“. Auf der Kreuzung Kastanienallee/Fehrbelliner Straße/Weinbergsweg wurden am vergangenen Mittwoch ein Radfahrer und sein Sohn im Kindersitz von einem Auto angefahren und schwer verletzt.
Erschwerend zur „Raserei“ komme das ständige Parken in zweiter Reihe durch Lkw vor zwei Supermärkten in der Fehrbelliner Straße hinzu, so Bader. „Problem ist vor allem das Missmanagement der Supermärkte und deren Nichtbeachten der Parkregeln.“ Das habe „wenig Konsequenzen“ durch Ordnungsamt und Polizei. „Passiert ist nichts. Hier wird die Kompetenz hin und her geschoben.“
Eine Antwort auf seine Eingaben habe er lediglich von der Polizei erhalten, so Bader. Darin teilt das Polizeipräsidium mit, ihm sei „bewusst, dass die Verkehrsdisziplin sowie die Bereitschaft der Fahrzeugführenden, sich an die geltenden Verkehrsvorschriften zu halten, tendenziell rückläufig erscheint. Diesem Verhalten gilt es entgegenzuwirken.“
Danach allerdings greift die Polizei zu ihren Standardtextbausteinen, die erklären, warum man gerade dort nicht diesem Verhalten entgegenwirken könne: Die Unfalllage sei „unauffällig“, es gebe zu wenige Verletzte und Tote in der Fehrbelliner Straße, um stärker einzugreifen. Man habe kaum Situationen angetroffen, „die über das normale Maß des öffentlichen Straßenverkehrs hinausgehen“. Die Frage ist nun, was „normal“ im Berliner Verkehr ist.
Auf jeden Fall normal ist das Behörden-Pingpong. „Für verkehrsbauliche und dauerhafte Anordnungen, wie z.B. das Aufstellen von Verkehrszeichen oder Pollern ist das Bezirksamt Pankow zuständig. Bitte wenden Sie sich direkt an das Bezirksamt Pankow“, schreibt die Polizei. Das habe er getan, so Bader, allerdings habe das Ordnungsamt den Fall Fehrbelliner Straße zwar als „erledigt“ eingestuft, aber nichts unternommen.
Beispiel 2: Komponistenviertel in Weißensee. Auch dort sieht das Bezirksamt trotz ständiger Beschwerden keinen Grund zum Handeln. Eltern der Picasso-Grundschule sowie der SPD-Abgeordneten Tino Schopf wiesen wiederholt darauf hin, dass Liefer-Lkw fast täglich Gehwege versperren, die von Schulkindern genutzt werden. „Der Edeka in der Berliner Allee/Smetanastraße wird mehrfach pro Woche so beliefert, dass Kinder sich auf ihrem Schulweg in Gefahr bringen müssen“, schreibt uns Alexandra Popp. Wie das aussieht, können Sie auf dem Foto oben sehen. Die AG „Sicherer Schulweg“ der Picasso-Grundschule habe mehrfach das Gespräch mit dem Marktleiter und dem Ordnungsamt gesucht, „aber leider vergeblich“.
Im Gegenteil: Das Bezirksamt hält die Kinder dafür verantwortlich, ihr Verhalten zu ändern. Es erwartet von ihnen, dass sie Gefahrenstellen auf dem Weg zu ihrer Schule proaktiv antizipieren und den Gehweg bereitwillig den Trucks überlassen. Das schrieb Stadtrat Kuhn Anfang 2019 als Antwort auf die Beschwerden an Schopf. Darin erklärte er, das Bezirksamt dulde die Nutzung des Gehwegs durch die Lkw. Zwar gebe es keine Sondergenehmigung dafür, doch der Supermarkt habe versprochen, nur vor 7 oder nach 8 Uhr zu beliefern und die Ladeluken der Lkws für Fußgänger „umgehend“ einzuklappen, wenn Fußgänger passieren wollten. Dass dies in der Realität natürlich nicht geschieht, ist auf dem Bild oben zu sehen.
„Sollte es trotzdem vereinzelt zu Behinderungen kommen, ist es aus Sicht des Bezirksamtes für Fußgänger zumutbar, an der Einmündung Smetanastraße/Berliner Allee mittels der dort befindlichen Lichtzeichensignalanlage gesichert die Fahrbahnseite zu queren, um dann auf der westlichen Gehwegseite in Richtung Bizetstraße zu laufen“, so Kuhn weiter. „An der Kreuzung Bizetstraße sind Gehwegvorstreckungen baulich errichtet, die dann wiederum das Queren der Fahrbahn ebenfalls gut ermöglichen.“
Wirklich riskant wird es anschließend. Kuhn macht nämlich nicht etwa die Gehwegblockierer, sondern die Eltern für eine eventuelle Gefährdung ihrer Kinder verantwortlich. „Im Rahmen einer angemessenen Verkehrserziehung ist es ratsam, auf mögliche Gefahren aufmerksam zu machen und beispielsweise auch mal einen längeren Schulweg zu wählen, falls dieser weniger gefährlich erscheint“, schreibt Kuhn.
„Angemessene Verkehrserziehung“ für die Schwächsten statt konsequentes Eintreten für deren Sicherheit – das erinnert an Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU). Seine Behörde wollte älteren Fußgängern unlängst „Fitnesskurse“ verpassen, damit sie trotz viel zu kurzer Grünphasen irgendwie über die Straßen kommen.
Auf Nachfrage bestreitet Kuhn die kontroversen Worte nicht. Die Antwort sei aber nicht nur seine Meinung, sondern das Ergebnis der bezirksinternen „Steuerungsrunde Schulwegsicherheit“, an der unter anderem auch das Schulamt mitwirkt. Die „hatte sich mehrfach damit beschäftigt, auch gab es Vor-Ort-Besichtigungen“.
Das Ergebnis überzeugt Schopf und Popp nicht. “Die Schulwegsicherheit scheint nicht so im Fokus des Bezirksamtes zu stehen“, kritisiert Schopf. Popp stimmt zu: „Uns Anwohnern ist natürlich klar, dass Supermärkte auch beliefert werden müssen, aber es ist schon erschreckend, wie wenig das bei der Straßenraumplanung mitbedacht wird.“
Die AG „Sicherer Schulweg“ der Picasso-Grundschule hatte dem Bezirksamt und der Steuerungsrunde den Vorschlag unterbreitet, doch eine Lieferzone für den Supermarkt einrichten, um den Gehweg freizuhalten. Doch das Bezirksamt lehnte ab. „Die Einrichtung einer Be- und Entladezone ist derzeit als verkehrliche Maßnahme nicht notwendig“, schrieb Kuhn. Es folgt eine weitere kontroverse Aussage: „Das Be- und Entladen ist auf Gehwegüberfahrten möglich, ohne dass andere Verkehrsteilnehmer behindert werden.“
Das überrascht. In Bezug auf den Supermarkt in der Pappelallee hatte Kuhn nämlich vor zwei Wochen hier im Newsletter erklärt, eine solche Nutzung des Gehwegs als Lieferzone sei nicht rechtens: „Insofern ist die Problemlage nutzerverursacht und zunächst einmal ordnungsrechtlich durch die zuständigen Behörden (Ordnungsamt, Polizei) zu behandeln.“ Das Ordnungsamt habe hier „selbst seine Aufgaben zu erfüllen“.
Immerhin will Kuhn die Gefahrensituation in Weißensee nun noch einmal „neu prüfen“. Und: „Sollte der Markt eine Ladezone beantragen, werden wir das entsprechend bewerten und entscheiden.“ Aber warum sollte der Markt das tun? Er hat ja schon eine behördlich geduldete Ladezone: den Gehweg.
Beispiel 3: Garbatyplatz in Pankow Kirche. Vergangene Woche schon hatte uns Jens Hahn darauf aufmerksam gemacht, dass die Anlieferungen für den Edeka-Supermarkt häufig den Gehweg unmittelbar neben der Elizabeth-Shaw-Grundschule in der Grunowstraße versperren. Er kaufe auch dort ein, so Hahn: „Mich ärgert aber, dass die Anlieferfahrzeuge den Gehweg blockieren und die Schüler auf die Straße ausweichen müssen.“ Das Problem sei seit Jahren bekannt, das Bezirksamt bleibe jedoch untätig.
Beispiel 4: Stedingerweg in Prenzlauer Berg. Ebenfalls seit Jahren bekannt sind die zugeparkten Gehwege im Blumenviertel. Die BVV forderte Kuhns Behörde deshalb per Beschluss dazu auf, den Durchgangsverkehr dort auszusperren. Doch das Bezirksamt erklärte, das sei rechtlich nicht einfach so möglich. Erst müsse eine Verkehrszählung durchgeführt und die Unfalllage analysiert werden – das kann weitere Jahre dauern. Anwohner Marc Zuckermann hält diese Argumentation zudem für falsch. Die „Gefahrenlage“ für die sogenannte „Experimentierklausel“ in der Straßenverkehrsordnung (§ StVO 45 Abs. 1 Nr. 6) sei „explizit nicht erforderlich“. Es sei eine „Unverfrorenheit“ Kuhns, dies immer wieder zu behaupten.
In der Tat wird diese Klausel andernorts im Bezirk genutzt, um etwa das Pilotprojekt der „Kiezblocks“ zu erproben. Zuckermann sieht im Stedingerweg dagegen kein Ende der „fast 30-jährigen Posse“ herannahen: „Es ist Hohn und Spott, wie das von Herr Kuhn geführte Bezirksamt mit der Verkehrssicherheit von Anwohnern und Kindern in diesem Wohngebiet umgeht.“
Beispiel 5: Conrad-Blenkle-Straße in Prenzlauer Berg. Dort streiten Eltern seit Jahren für Zebrastreifen vor der Tesla-Gemeinschaftsschule. Der wurde 2020 tatsächlich von der Senatsverkehrsverwaltung genehmigt, passiert ist bisher nichts. Die BVV fordert vom Bezirksamt daher, bis dahin eine „temporär Querungshilfe“ einzurichten – also einen Übergangs-Überweg. Diesen gibt es Kuhn erklärt auf Nachfrage: „Dazu finden gerade Abstimmungen im Amt statt.“
Die in StVO §1 geforderte „gegenseitige Rücksicht“ heißt demnach auch in Pankow weiterhin, dass die Schwachen auf die Starken Rücksicht nehmen müssen – und zwar ganz egoistisch aus Angst um ihr Leben. Die Behörden im Bezirk reden potenzielle Gefahren durch Falschparken weiter eher klein, anstatt sie ernst zu nehmen und dagegen vorzugehen.
Doch einfach die Straßenseite zu wechseln, oder – wenn man zur Schule will – lieber gleich vorsorglich ganze Straßenzüge nicht betreten, um nicht wegen blockierter Gehwege überfahren zu werden – das kann nicht die Lösung sein. Dieser Rat aus dem Bezirksamt ist zynisch, gefährlich und obendrein unlogisch: Was, wenn auf der anderen Seite oder dem Umleitungs-Schulweg auch ein Lkw/Transporter/Auto den Gehweg blockiert?
Aus dieser Behördenlogik gibt es derzeit nur eine Ausfahrt: Wer in Pankow auf Nummer sicher gehen will, muss ins Auto steigen. Das tun auch viele und fahren ihre Kinder gleich per Elterntaxi vor. Das allerdings findet das Bezirksamt dann ziemlich gefährlich. / Foto: privat
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