Nachbarschaft
Veröffentlicht am 15.04.2021 von Boris Buchholz

Sie könnten bei Ihnen um die Ecke wohnen: Dorit Grieser, Sabine Moser und Stephan Voß sind Nachbar:innen aus Lichterfelde. Kennengelernt haben sie sich, weil sie sich für den Erhalt des Ferdinandmarktes am Kranoldplatz engagierten – jetzt haben sie eine eigene und über ihren Kiez hinausgehende Initiative gegründet. Das Ziel der „Initiative Bürger*innenbeteiligung Lichterfelde Ost“: Mehr Bürgerbeteiligung in Steglitz-Zehlendorf. Warum das nötig sei, erklärt Dorit Grieser (sie lebt seit 65 Jahren in Lichterfelde).
Frau Grieser, Ihrer Meinung nach findet in Steglitz-Zehlendorf zu wenig Bürgerbeteiligung statt. Wie kommen Sie darauf? Auf der Beteiligungsplattform mein.berlin.de sind aktuell für Steglitz-Zehlendorf vier Projekte angegeben, darunter ein laufendes sowie drei abgeschlossene. Zwei davon, auch das laufende zum „Quartiersmanagement Thermometersiedlung“, sind bemerkenswerter Weise vom Senat beauftragt. Im Vergleich dazu sieht man für Mitte 222, darunter 171 laufende Projekte. In Pankow beträgt das Verhältnis 40 zu 11, in Tempelhof-Schöneberg 42 zu 7, in Friedrichshain-Kreuzberg 23 zu 6. Es ist also noch viel Luft nach oben! Auch ganz konkret bei uns um die Ecke vermissen wir Bürgerbeteiligung: Im Projektantrag „Management für ein wirtschaftlich lebendiges Zentrum rund um den Kranoldplatz in Lichterfelde Ost“ des Bezirksamts spielt die Beteiligung von Anwohnerinnen und Anwohnern offenbar keine Rolle. Zu unserer Freude haben den Zuschlag für das sogenannte Standortmanagement „die raumplaner“ bekommen. Laut Homepage verfügen sie auch über ausgewiesene Kompetenzen in Sachen Bürgerbeteiligung. Das lässt uns hoffen …
Es gibt bereits Wahlen, öffentliche Auslegungen bei Bebauungsplänen, Einwohnerfragestunden in der BVV und Mitteilungen des Bezirksamts in den sozialen Medien. Was fehlt noch? Zusätzlich zu den gesetzlich vorgesehenen formellen Beteiligungsverfahren sollte sich eine demokratisch verankerte Beteiligungskultur entwickeln können, also eine informelle Beteiligung.
Was verstehen Sie darunter? Zum Beispiel frühzeitige und transparente Informationen über größere Vorhaben wie zum Beispiel städtebauliche Veränderungen im Bezirk. Transparente Verfahren würden helfen, Verwaltungshandeln besser nachzuvollziehen, verlässliche und offen dargestellte Kriterien für Entscheidungen auch. Warum gibt es keine professionell moderierten Beteiligungsprozesse und Workshops in vereinbarten Zeitabständen während der Projektablaufphasen? Um all das zu organisieren und den Überblick zu behalten, wünschen wir uns eine angemessen ausgestattete Koordinierungsstelle für die Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern im Bezirksamt. Ein festes Büro mit Mitarbeitern, die Zeit für die Bürgerbeteiligung haben und ausreichend finanziert sind. Aber: Wir sehen nicht, dass es in diese Richtung geht. Uns fehlt bislang der erkennbare politische Wille.
Bezirkspolitiker argumentieren gerne, die Bürger könnten nicht bei allen Dingen mitbestimmen, das würde zu Stillstand und Chaos führen; außerdem sei man ja immer bereit, bei Bürgerveranstaltungen Rede und Antwort zu stehen. Was entgegnen Sie darauf? Stillstand und Chaos will keiner. Aber nur reden reicht auch nicht. Bürgerveranstaltungen sind oft eher „kommunikative Einbahnstraßen“: Man wird informiert. Passiv. Die Politiker oder Planer nehmen aus der Diskussion wenig mit. Eine Beteiligung ist unseres Erachtens insbesondere bei Projekten erforderlich, bei denen unterschiedlichste Interessen vorliegen. Eine gestärkte und aktive Rolle der Zivilgesellschaft hilft, Planungsprozesse demokratischer, nachvollziehbarer und transparenter zu machen. Warum werden die Kompetenzen und das Wissen vor Ort nicht genutzt, um die Stärken und Schwächen im jeweiligen Kiez zu benennen? Planungen könnten als einladende Prozesse gestaltet werden. Dann könnte die Zusammenarbeit der Bürgerinnen und Bürger, der Vertretererinnen und Vertreter aus Politik und Verwaltung sowie der Gewerbetreibenden bei komplexen Problemen zu tragfähigen Lösungen für einen lebenswerten Kiez führen – gemeinsam.
Bitte nennen Sie Beispiele: Wo und wie läuft Bürgerbeteiligung denn konkret besser als im Berliner Südwesten? Es gibt so gute Anregungen und Beispiele, an denen sich Steglitz-Zehlendorf orientieren könnte! Solche Entwicklungen machen uns Mut. Zum Beispiel gibt es in Tempelhof-Schöneberg die Bürger_innenräte und die Stabsstelle für Dialog und Beteiligung. In Mitte haben Bürgerschaft, Politik und Verwaltung gemeinsam Leitlinien für Bürgerbeteiligung erarbeitet. In Teltow sind Bürger bei der Erarbeitung eines Integrierten Stadtentwicklungskonzepts in der Städtebauförderung beteiligt worden – Herr Buchholz, Sie haben darüber geschrieben!
Und Sie haben es gelesen. Sie haben einen Einwohnerantrag für mehr Beteiligung formuliert und sammeln jetzt Unterschriften. Was sind die nächsten Schritte? Den Einwohnerantrag sehen wir als eine gute Möglichkeit für uns Bürger, Einfluss auf die politischen Vorgänge im Bezirk zu nehmen, einen Impuls zu setzen. Insbesondere da es um Bürgerbeteiligung unabhängig von Geschlecht, Alter oder auch Parteizugehörigkeit geht. Wenn wir ausreichend – und das heißt 1.000 gültige – Unterschriften gesammelt haben, werden wir den Antrag in der Bezirksverordnetenversammlung einreichen. Die BVV muss sich mit dem Antrag inhaltlich beschäftigen, sich positionieren und innerhalb von zwei Monaten über ihn entscheiden. Sollte er angenommen werden, hat das Bezirksamt neun Monate Zeit zur Umsetzung. Es braucht diesen formalen Weg, um über die Haushaltsplanung im Bezirk zukünftig eine Anlaufstelle mit Anhörungs-, Koordinierungs- und Umsetzungsaufgaben für Bürgerbeteiligung mit ausreichend zeitlichen, personellen und finanziellen Ressourcen absichern zu können.
Hand aufs Herz, wie groß sind die Chancen, dass das umgesetzt wird? Wir hoffen, dass wir die politischen Akteure für Bürger- und Bürgerinnenbeteiligung gewinnen werden! Wichtig ist, dass wir als parteipolitisch unabhängige Gruppe agieren. Wir legen auf eine an der Sache orientierten Zusammenarbeit mit anderen Bürgerinnen und Bürgern, Interessengruppen, Verwaltung und allen demokratischen Parteien großen Wert. Für eine gemeinwohlorientierte Entwicklung unseres Bezirks ist eine strukturell verankerte, politisch gewollte, geförderte und professionell umgesetzte Bürgerbeteiligung eine Notwendigkeit. Gleichzeitig wäre sie auch eine Würdigung des schon vorhandenen und breit aufgestellten zivilgesellschaftlichen Engagements. Andere Bezirke haben das bereits erkannt und heben diese „Schätze“. Steglitz-Zehlendorf kann es sich unseres Erachtens gar nicht leisten, diese Potenziale brach liegen zu lassen.
Sie sind ja sehr optimistisch … Außerdem sind wir überzeugt, dass es sich rechnen wird. Wenn Bürger ernst genommen, angehört, beteiligt werden, also im übertragenen Sinne etwas bekommen, dann werden noch mehr Menschen bereit sein, etwas zu geben. Der Titel unseres Einwohnerantrags lautet nicht zufällig „Beteiligung stärkt die Demokratie und fördert gemeinnütziges Engagement – auch in Steglitz-Zehlendorf“.
Die Buchhändler im Bezirk scheinen Sie inhaltlich voll zu unterstützen: In vielen Buchläden liegt ihr Einwohnerantrag aus. Wie haben Sie das geschafft? Ehrlich gesagt, zunächst war das eine pragmatische Überlegung. Was hat im Lockdown light geöffnet, was ist in den Ortsteilen zu finden? Die Buchhandlungen boten differenzierte Kooperationen an: manche als Abgabestelle, manche als Auslagestelle, manche machen beides. Wir sind geradezu begeistert über so viel Kooperationsbereitschaft.
Wie ist denn die Resonanz bei den Menschen? Viele Anwohner nehmen gern unsere Unterschriftenlisten entgegen. Manche wollen sich verständlicher Weise erst einmal in Ruhe mit dem Thema befassen, um dann gegebenenfalls zu unterschreiben. Das scheint mir eine verantwortliche demokratische Haltung zu sein. Wer weiß, vielleicht sammelt der eine oder die andere sogar weitere Unterschriften zu Hause …
Die Buchhändler unterstützen Sie, unterstützen Sie auch Ihre lokalen Buchhändler? Was war das letzte Buch, dass Sie sich im Kiez gekauft haben? Als Sofa-Lektüre wartet auf mich Kommissar Dupins neunter Fall von Jean-Luc Bannalec: Bretonische Spezialitäten. Diese Reihe lässt die Bretagne wie ein Film vor meinen Augen ablaufen und erinnert mich an wunderbare Radtouren dort an der bretonischen Küste entlang – gerade in diesen Zeiten, in denen die letzten Reiseerlebnisse gefühlt sooo lange her sind.
- Sie erreichen die „Initiative Bürger*innenbeteiligung Lichterfelde Ost“ unter der E-Mail-Adresse beteiligung-lio@web.de.
- Foto: privat
- Wer soll hier als nächstes vorgestellt werden? Sie selbst? Jemand, den Sie kennen? Wir freuen uns auf Ihre Vorschläge unter: boris.buchholz@tagesspiegel.de