Nachbarschaft

Veröffentlicht am 19.05.2022 von Boris Buchholz

Als am Internationalen Tag der Hebamme, es war der 5. Mai, die Evangelische Hochschule Berlin am Teltower Damm ihre neue Hebammen-Übungsstation, das Skills Lab, einweihte (ich habe es mir angesehen), wiesen die Festrednerinnen bei aller Freude über die moderne Einrichtungen auch auf die Nöte in der deutschen Geburtshilfe hin: zu wenig Personal, Stress für die wenigen Hebammen, schlechte Arbeitsbedingungen, unzureichende Betreuung der Schwangeren und Gebärenden, in vielen Fällen unnötige Eingriffe in den Kliniken (hier lesen Sie Auszüge der Festrede von Beate Schücking, der ehemaligen Rektorin der Universität Leipzig).

Warum streben dennoch junge Leute den Beruf der Hebamme und des Geburtshelfers an? Was macht die Arbeit attraktiv? Zwei Studentinnen an der Evangelischen Hochschule Berlin geben Antworten. Sophie Wierling (31, links im Bild) stammt aus Warstein im Sauerland – der Kreißsaal, in dem sie geboren wurde, ist vor drei Jahren wegen Personalmangels geschlossen worden. Jetzt pendelt sie täglich von Wedding nach Zehlendorf, sie studiert im vierten Semester Hebammenkunde. Ihre Kommilitonin Ekaterina Kroviakova, 27, hat sich in den neuen Folge-Studiengang Hebammenwissenschaft eingeschrieben; sie ist im zweiten Semester – auch sie hat eine weite Anreise: Sie wohnt in Weißensee.

Frau Wierling, Frau Kroviakova, warum wollen Sie Hebammen werden?
Sophie Wierling: Der Übergang in die Elternschaft ist eine der einschneidendsten Veränderung im Leben eines Menschen. Schwangerschaft, Geburt, Wochenbett – für Hebammen ergibt sich hieraus ein unheimlich vielfältiges Berufsbild, das stets vom nahen Kontakt zu den Familien geprägt ist. Außerdem erleben die Familien zugleich Momente größter Stärke und auch größter Verletzlichkeit, es ist einfach faszinierend, diese Extreme so nah beieinander zu erleben und begleiten zu dürfen. Als ich selbst Mutter wurde und Hebammenarbeit aus nächster Nähe erlebt habe, hat sich bei mir dieser Berufswunsch entwickelt.
Ekaterina Kroviakova: Vor der Geburt meiner Tochter wusste ich tatsächlich nicht, welchen Stellenwert Hebammen in Deutschland haben. In meinem Heimatland spielen sie eine relativ untergeordnete Rolle: Es sind, soweit mir bekannt, keine außerklinischen Geburten in Russland erlaubt, Schwangerenvorsorge und Nachsorge werden von Ärzten durchgeführt. Selbst Hausbesuche werden in der Regel von den Kinderärztinnen und -ärzten gemacht, die sich in der ersten Linie für das Wohlergehen des Neugeborenen und nicht so der Mutter interessieren. Meine Tochter wurde in Deutschland geboren und vor allem Dank meiner Nachsorgehebamme habe ich verstanden, wie viel Hebammen in Deutschland machen können, um die Frauen und ihre Partnerinnen und Partner bei der Entstehung einer neuen Familie zu unterstützen.

Sind Ihre Eltern auch Geburtshelfer?
Sophie Wierling: Tatsächlich ist meine Mutter Hebamme. Sie arbeitet seit Jahrzehnten im Kreißsaal einer Klinik und früher habe ich gedacht: Hebamme werden kommt für mich nicht in Frage, das ist viel zu stressig.

Gutes Stichwort: Das Wohlergehen von Mutter und Kind liegt in Ihren Händen, das ist eine große Verantwortung. Macht Ihnen das eher Freude oder Angst?
Ekaterina Kroviakova: Anfangs machte mir das schon etwas Angst. Aber jetzt ist es eher mein größter Ansporn, gut zu lernen, damit ich dieser Verantwortung am Ende gewachsen bin.
Sophie Wierling: Ich hoffe, gerade zu Beginn meiner Berufstätigkeit in einem wohlwollenden Team zu arbeiten und dass ich mich bei Unsicherheiten an erfahrene Kolleginnen und Kollegen wenden kann. Eine Dozentin von uns hat mal gesagt: Hebammen sind wie guter Käse, sie werden mit den Jahren immer besser. Und durch Teamwork können wir alle profitieren. Trotzdem bleibt es eine manchmal unheimlich große Verantwortung, die mir auch Angst macht. Ich glaube in diesem Zusammenhang ist es wichtig, eine gute Selbstfürsorge zu kultivieren und anzuerkennen, dass kein Mensch fehlerfrei ist.

Die Gebärpuppe in Kreißsaal 1 des neuen Skills Lab ist mir ein wenig unheimlich – sie kann selbständig mit den Augen rollen…
Ekaterina Kroviakova: Mit der Gebärpuppe an sich haben wir noch nicht viel gemacht, da wir noch relativ früh im Studium stehen. Wir haben sie allerdings auch schon gesehen und manche von uns fanden sie ebenfalls unheimlich. Am schönsten finde ich die Übungen, bei denen wir uns in die unterschiedlichen Rollen hineinversetzen dürfen und zum Beispiel einen klinischen Wochenbettbesuch nachspielen. So kann man sich auch in die Situation der Gebärenden hineinversetzen und besser verstehen, wie es ihnen möglicherweise ergeht und wie man besser miteinander kommunizieren kann.

Sind diese Roboterpuppen mit der „echten“ Praxis überhaupt zu vergleichen?
Sophie Wierling: Handlungen wie zum Beispiel das Legen eines Harnblasenkatheters fühlen sich an der Puppe schon deutlich anders an als bei einem Menschen. Aber es ist sehr hilfreich die Abläufe vor dem ersten Mal gezielt durchzuspielen. Bei so einem Katheter bekommt man zwar schnell eine gewisse Routine, aber zu Beginn ist das komplex, man will ja alles richtig machen. Bei einer praktischen Prüfung im ersten Semester musste ich eine Schwangerenpuppe und eine Neugeborenenpuppe untersuchen. Die Prüferinnen und Prüfer bekommen so schon einen besseren Eindruck, wie die zu prüfende Person tatsächlich in der Praxis arbeitet.
Ekaterina Kroviakova: Solche Puppen können ziemlich hilfreich sein, um das richtige Verhalten in komplizierten geburtshilflichen Situationen einzuüben. So kennt im Notfall jede und jeder im Team seinen oder ihren Platz und was sie oder er machen soll – man lernt ohne den Druck, den man natürlich hätte, wenn man echte Menschen vor sich hätte.

Die Praxis sieht für Hebammen in Deutschland nicht rosig aus: Was muss sich in der Geburtshilfe ändern, damit schwangere und gebärende Frauen besser begleitet und behandelt werden können?
Ekaterina Kroviakova: Wenn die Hebammenstellen gut besetzt, die Hebammen nicht überarbeitet und gut bezahlt wären, würde sich die Qualität der Betreuung unter der Geburt verbessern.
Sophie Wierling:
Ein riesiger Meilenstein wäre die Umsetzung der Eins-zu-eins-Betreuung zur Geburt: Also ein Personalschlüssel in den Kliniken, der es erlaubt, dass eine Hebamme nur eine Familie begleitet. Diese Maßnahme würde sowohl die Arbeitszufriedenheit der Hebammen als auch die Qualität der Versorgung steigern.
Ekaterina Kroviakova: Es ist auch wichtig, dass die Geburt mehr in der Gesellschaft thematisiert und normalisiert wird. Für die meisten Menschen scheint eine Geburt ein medizinischer Notfall zu sein! Das ist sie aber selten. Wenn Geburt als natürlicher Vorgang begriffen würde, würden sich mehr Frauen und Familien für eine außerklinische Geburt entscheiden – sei es im Geburtshaus oder zu Hause, wo auch eine Eins-zu-eins-Betreuung eher umsetzbar wäre.
Sophie Wierling: Das Gesundheitssystem sollte auf die individuellen Bedürfnisse der Menschen eingehen. Beispielsweise ist es manchen Schwangeren wichtig, zu der Person, die sie zur Geburt begleiten wird, schon im Vorhinein eine vertrauensvolle Beziehung aufzubauen. Um dieser Individualität Rechnung zu tragen, brauchen wir ein Gesundheitssystem, das alle Versorgungskonzepte rentabel und umsetzbar macht: vom Perinatalzentrum über kleine Geburtskliniken und Geburtshäuser bis hin zur Beleg- oder freiberuflichen Hebamme.

Interessant – denn 98 Prozent der Kinder in Deutschland werden in Krankenhäusern geboren: Könnten Sie sich auch vorstellen, in einem Geburtshaus zu arbeiten?
Sophie Wierling: Für mich liegt der Reiz der außerklinischen Arbeit ganz besonders in der Betreuungskontinuität. Ich stelle mir das so vor, dass man als Hebamme eine professionelle Beziehung zu der Familie und ein umfangreicheres Wissen über ihre individuellen Bedürfnisse aufbauen kann. Ich hatte bisher noch keinen tiefergehenden Einblick in diese außerklinische Arbeit und freue mich daher besonders auf meinen vierwöchigen Einsatz in einem Geburtshaus im Sommer diesen Jahres.
Ekaterina Kroviakova: Ich könnte mir gut vorstellen, auch außerhalb einer Klinik zu arbeiten. Vielleicht gelingt es mir, Teilzeit in einer Klinik beschäftigt zu sein und die andere Hälfte meiner Arbeitszeit der Vor- und Nachsorge zu widmen.

Eine klasse Sache am Hebammen-Studium ist, dass man von Beginn an Geld verdient. Könnten Sie kurz erklären, warum das wichtig ist und wie viel Geld Sie verdienen?
Sophie Wierling: Ich verdiene mittlerweile im zweiten Jahr circa 1200 Euro Brutto. Für mich und meine Familie ist das ein erheblicher Teil unserer Existenzgrundlage. Ohne dieses Gehalt könnte ich keine Hebamme werden, sondern müsste in meinem alten Beruf bleiben. Unsere Professorin hat einmal zu uns gesagt: „Um Hebamme zu werden, braucht man eine gute Bildung.“ Das umfasst Schule, Beruf und viel Lebenserfahrung. Wer erst in einem anderem Beruf gearbeitet und Familie hat, ist meist nicht berechtigt, Bafög zu beantragen und braucht ein Einkommen. Durch die bunte Mischung an Alter, Perspektiven und Erfahrungen gewinnen auch die Diskussionen und Reflexionen in unserer Gruppe.
Ekaterina Kroviakova: Ohne die Vergütung könnten sich viele das Studium nicht leisten. Außerdem ist es ein duales Studium, bei dem sich theoretische und praktische Phasen abwechseln. Verdient man nicht in allen dualen Studiengängen Geld?
Sophie Wierling: Nein, eben nicht. Unsere Mitstudierenden aus dem Bachelor of Nursing, das sind die Pflegestudierenden, erhalten keine Vergütung – obwohl nach demselben Prinzip wie beim Hebammen-Studium die dreijährige Ausbildung in ein Bachelor-Studium integriert wird. Die allgemeine Arbeitsbelastung und die Abbruch-Quote ist dort sehr hoch und liegt bei fast 50 Prozent. Die betroffenen Kommilitoninnen haben einen offenen Brief an politische Entscheidungsträgerinnen und -träger in Berlin verfasst, in dem sie eine Vergütung fordern.

Hier kommt der Werbeblock: Nennen Sie bitte drei Stichworte, um andere für das Hebammen-Studium zu begeistern.
Ekaterina Kroviakova: Spannend, abwechslungsreich und coole Mitstudentinnen – auch wenn das vier Worte sind.
Sophie Wierling: Physiologie, Begleitung, Wissenschaftlichkeit.

Und jetzt bitte drei Stichworte, um speziell Männer als Geburtshelfer zu gewinnen.
Sophie Wierling: Ich würde da nicht differenzieren wollen, die vorherigen drei Stichworte sind für Personen aller Geschlechtsidentitäten gedacht.
Ekaterina Kroviakova: Probieren wir es mal so: Diversität auch im Kreißsaal, Teamarbeit, facettenreich.

An der Evangelischen Hochschule studieren keine Männer Hebammenwissenschaft, es haben sich keine beworben. Enttäuscht Sie das?
Ekaterina Kroviakova: Nein, aber es gäbe wahrscheinlich eine etwas andere Gruppendynamik, wenn Männer mitstudieren würden. Und eines steht fest: Unsere Lerngruppen scheinen mir sehr offen und freundlich, sodass sich alle, ob Frau oder Mann, hier wohlfühlen können.
Sophie Wierling: Insgesamt würde ich mich über eine noch höhere Diversität freuen, zum Beispiel in Bezug auf Menschen aller Geschlechtsidentitäten und People of Color. Das würde die Gruppendiskussionen um weitere wertvolle Aspekte erweitern. Enttäuscht bin ich über die mangelnde Sichtbarkeit und Wertschätzung von Care Arbeit – sei es nicht vergütete beispielsweise von Eltern oder Angehörigen oder als Erwerbstätigkeit ausgeübte wie von Gesundheits- und Krankenpflegenden, Erzieherinnen und Erziehern, Hebammen, Sozialarbeiterinnen und -arbeitern. Würden diesen Tätigkeiten eine höhere gesellschaftliche Relevanz und somit Anerkennung zugesprochen, sowohl monetär als auch durch gesellschaftliches Ansehen, könnten sich bestimmt mehr Menschen aller Geschlechtsidentitäten eine entsprechende Berufswahl vorstellen.

Alles ist erlaubt: Bei welcher Person würden Sie gerne Hebamme sein?
Ekaterina Kroviakova: Vielleicht bei meiner Lieblingssängerin Alanis Morissette. Aber grundsätzlich bin ich glücklich, fast bei jeder Frau Hebamme sein und sie in dieser besonderen und schönen Lebensphase begleiten zu dürfen.
Sophie Wierling: Ich bin bei Ihren vorherigen Fragen sehr politisch geworden, da sich diese Themen in meinem beruflichen Alltag aufdrängen und nach Veränderung schreien. Aber eigentlich lese ich im Wartezimmer auch richtig gerne mal Boulevard-Magazine und entscheide mich daher für: Jennifer Lopez und Ben Affleck. Sollten „Bennifer“ ein gemeinsames Kind erwarten, ich würde sie liebend gern auf ihrem Weg begleiten – dafür müsste ich dann allerdings nach Los Angeles ziehen.

  • Fotos: privat
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